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50 Jahre Norderstedt

Norderstedt: Chemie für große Filme

New Tetenal setzt auf den Nischenmarkt der analogen Bilder

Noch produziert die neue Tetenal auf dem 30.000 Quadratmeter großen Gewerbegrundstück. Doch von den riesigen Lager- und Büroflächen wird nur ein kleiner Teil benötigt. Deshalb sucht die Geschäftsführung nach einer neuen Fläche.  
Noch produziert die neue Tetenal auf dem 30.000 Quadratmeter großen Gewerbegrundstück. Doch von den riesigen Lager- und Büroflächen wird nur ein kleiner Teil benötigt. Deshalb sucht die Geschäftsführung nach einer neuen Fläche.
 
 
Wer durch die alten Fabrikgebäude der Tetenal wandert, fühlt sich um ein halbes Jahrhundert zurückversetzt. Im Lager hängen noch vergilbte Luftbilder vom Start in Norderstedt Ende der 50er-Jahre. In der stillgelegten Entwicklungsabteilung finden sich Plakate für alte Filme der Hollywood-Regisseure Quentin Tarantino und Steven Spielberg.

„Das waren wahrscheinlich die besten Zeiten von Tetenal“, erzählt Stefania Grimme. Sie führt gemeinsam mit Carsten Gehring die Geschäfte des Nachfolgeunternehmens, der Tetenal 1847. Mit dieser steilen Karriere rechnet die junge Frau nicht, als sie vor zwei Jahren als Produktionsleiterin im Betrieb einsteigt.

Was sie damals entdeckt, lässt ihr die Nackenhaare zu Berge stehen: ein völlig veraltetes Buchhaltungssystem; ein Lager, in dem die Produkte mit dem Handkarren eingesammelt werden. Statt Spezialchemie aus den Laboren der Entwickler größter Filmerfolge, versucht sich ihr Arbeitgeber als Verteiler von Drucker und Patronen. Die traurige Folge: Noch während ihrer Probezeit stellt Tetenal den Antrag, ein Insolvenzverfahren zu eröffnen.
 
Eine Werbung aus den 20ern...
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Doch aufzugeben, ist weder die Sache der treuesten Mitarbeiter:innen noch einiger Neulinge wie Stefania Grimme. Während der Insolvenzverwalter die Firma bereits abwickelt, entwickelt ein Team neue Ideen. Insolvenzverwalter Sven-Holger Undritz schwärmt in einem Interview für die Fachzeitschrift „return“: ,,Dies ist mein erster Fall, in dem nach fest beschlossener Betriebsschließung doch noch der Turnaround gelang.“

Grundlage dafür sind eine „disziplinierte Liquiditätsplanung des Sanierungs-Teams“ sowie ein Impuls, der im Spanischen unter dem Begriff „Gran Tiro“ für „großer Wurf“ steht. Grantiro heißt der Zusammenschluss von Expert:innen, die vom Untergang bedrohte Topunternehmen beim Entwickeln von Zukunftskonzepten unterstützen. Die Initiative aus Wien arbeitet unter dem Slogan „Wirtschaft. neu denken.“ Bei Tetenal engagieren sich Professor Christoph Wecht, Annabell Pehlivan und Peter Rasenberger.

„Kein Stein soll auf dem anderen bleiben“ lautet die Devise. Andererseits soll „die Rückbesinnung auf alte Stärken und Formeln“ neue Produkte hervorbringen. Der Ideenreichtum beeindruckt die Berater:innen. Am Ende einigt sich die Gruppe auf 30 Initiativen für neue Geschäftsmodelle. Dazu zählt ein Starterkit aus Fotoapparat und Mini-Fotolabor. Denn die Wiedergeburt der analogen Fotografie gilt unter Teilen der Jugendlichen weltweit als Kult. Doch auch Profis wie die Filmlegenden Spielberg und Tarantino setzen auf traditionelle Fotochemie. „Damit lässt sich mehr Weite, und Tiefe zeigen“, erzählt Stefania Grimme.
 
...und ein neues Produkt: ein Entwickler-Set für einen Film. Fotos: Tetenal  
...und ein neues Produkt: ein Entwickler-Set für einen Film. Fotos: Tetenal
 
 
Auch die Qualität und Haltbarkeit etwa bei historischen Luftaufnahmen und Röntgenbildern ist deutlich höher. Stefania Grimme: „Mittelfristiges Ziel ist es, neue Produkte an den Start zu bringen. Zum Beispiel verkaufen wir über unseren Onlineshop und den Fachhandel Spezial-Flüssigkeiten, um einen Film daheim entwickeln zu können. Es gibt eine große Retro-Szene, die dieses Hobby wieder zum Leben erweckt.“ Mit innovativen Produkten soll auch die neue Tetenal eine Zukunft haben. mra

www.50jahrenorderstedt.de
 

Beschäftigte und Produkte

Etwa 45 Mitarbeiter:innen haben in 2019 seit dem Unternehmensstart zum 1. April rund fünf Millionen Euro Umsatz erwirtschaftet. Das Grundstück ist 30.000 Quadratmeter groß und gut zur Hälfte noch genutzt. Die neue Tetenal benötigt nur 6000 Quadratmeter Fläche.

Ausbildung

Das Unternehmen bildet zurzeit nicht aus, ermöglicht aber mithilfe der Arbeitsagentur ungelernten Angestellten, ihre Ausbildung nachträglich abzuschließen.

Kontakt

Tetenal 1847 GmbH
Schützenwall 31–35
22844 Norderstedt
www.tetenal.com

Aus der Firmengeschichte

Es sind viele Tüftler, die die Technik für den Film entwickelt haben. Der Erfinder Thomas Edison mit seinem Kinetoskope (1891) gehört dazu. Aber auch die vier Jahre später folgenden Vorführungen der Gebrüder Skladanowsky und Lumiére werden als Meilensteine für den Beginn der Filmgeschichte bewertet.

In Deutschland steigt der Spezialchemiehersteller Tetenal in das Geschäft mit den Entstehungsprozessen für die (laufenden) Bilder ein – erst am Stammsitz in Berlin, später in Hamburg und zuletzt in Norderstedt. Der Unternehmer Theodor Teichgräber ist der Namensgeber der Firma. 1847 startet er mit dem Vertrieb von Chemikalien für die Bildentwicklung. Aus seinem Drogeriegroßhandel entwickelt sich später die Tetenal Europe GmbH.

Das Warenzeichen mit dem schwarzen Schriftzug Tetenal trägt das Unternehmen bereits 1910 ein. 1914 wird der Betrieb zur Aktiengesellschaft und zieht von Berlin nach Hamburg. 1926, also noch vor der Weltwirtschaftskrise 1929, geht die Firma zum ersten Mal in Konkurs. Die Geschäfte werden von einer Auffanggesellschaft weitergeführt. Unter dem Namen Tetenal AG ist die Aktiengesellschaft laut Internetlexikon Wikipedia bis 2012 in Hamburg registriert. Diese geht im August 2012 in die Tetenal Beteiligungsgesellschaft mbH mit Sitz in Norderstedt über.

Nach einer erneuten Insolvenz im Oktober 2018 wird das Unternehmen im März 2019 von einer Mitarbeiterinitiative neu gegründet und firmiert unter TETENAL 1847 GmbH. Zu den Gesellschaftern zählt der in der Schweiz ansässige Unternehmer Peter Rasenberger.

Tetenal ist bis heute einer der bedeutendsten Anbieter der Fotochemie für Schwarzweiß-, aber auch für die Farbprozesse E-6, C-41 und RA-4. Bekannte Produkte sind „Neofin“, ein Schwarz-Weiß-Negativentwickler, und der Positiventwickler „Eukobrom“.

Alle Beteiligten, auch von den Produkten abhängige Kund:innen der Film- und Fotoindustrie, hoffen auf den Erfolg. Insolvenzverwalter Sven-Holger Undritz: ,,Die guten Ideen, die Überzeugungskraft und das Vertrauen der Geschäftspartner:innen stimmen mich optimistisch.“
 
Chemie für große Filme Image 1

50 Jahre Norderstedt – 50 Unternehmen. Jeden Montag stellt die EGNO, Entwicklungsgesellschaft Norderstedt, in Zusammenarbeit mit den städtischen Gesellschaften ein Norderstedter Unternehmen vor. Alle Berichte unter: www.egno.de/50
  

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