Küchendesigner erobern den Wohnbereich
Dass jede Krise auch neue Chancen birgt, hat in Zeiten von Corona vor allem die Branche der Küchenhersteller erleben dürfen. Im Jahr 2020 wuchs deren Umsatz um 4,5 Prozent auf 5,3 Milliarden Euro im Vergleich zum Vorjahr, wie das Statistische Bundesamt ermittelt hat. Die Hersteller von Elektrogeräten sind noch nicht einmal hineingerechnet. Für das aktuelle Geschäftsjahr erwartet die Industrie ein „Rekordergebnis“, so Volker Irle, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Die Moderne Küche (AMK).
„Die Küche hat in der Pandemie das Auto als Statussymbol abgelöst“, sagt Insider Irle und verweist auf eine aktuelle Umfrage der Stiftung für Zukunftsfragen. Der zufolge wollen nur noch 16 Prozent der Befragten ihr Erspartes für ein neues Auto ausgeben, über 36 Prozent haben die Themen gesunde Ernährung und Kochen für sich entdeckt, insgesamt 42 Prozent planen Investitionen in ihre eigenen vier Wände, wobei eine neue Küche an erster Stelle steht.
Das liegt vor allem an der Innovationskraft der Branche. Schon vor Corona hatten zahlreiche Neuheiten bei Design und technischer Ausstattung den Wunsch nach einer „neuen“ Küche beflügelt: Offen mit Blick in den Wohnbereich sollte sie sein, mit frei stehendem Kochblock und eingelassenem Induktionsherd, wahlweise mit integrierten oder angrenzenden Essbereich. Diese Entwicklung hat sich während der Pandemie noch einmal verschärft: Durch den erzwungenen Rückzug ins Private sind immer mehr Menschen auf die schöne neue Küchenwelt aufmerksam geworden – und wollen sich diesen Traum erfüllen, so Branchenexpertin Ursula Geismann: „Plötzlich beschäftigten sich alle mit neuen Küchendesigns, Hightech-Geräten, Oberflächenmaterialien, App- und Lichtsteuerung oder unsichtbaren Soundsystemen.“ Damit, so Ursula Geismann, funktionierten sie die Küche zum neuen, multifunktionalen Lebensmittelpunkt um: „Tagsüber dient sie als Arbeitsplatz fürs Homeoffice, abends wird sie zur Eventfläche für Kochabende mit Familie und Freunden.“
Die Küche ist das neue Wohnzimmer geworden
Die Küche ist das neue Wohnzimmer. Von dieser Entwicklung hin zum neuen Lebensmittelpunkt der Familie profitieren Küchenhersteller ebenso wie die Branche der Küchenplaner. Die wirtschaftliche Dominanz der Küchenbranche im Einrichtungssegment sorgt hier gerade für einen Paradigmenwechsel: Wer eine Küche plant, avanciert – sofern es sein Können und seine Intention erlauben – automatisch zum Interiordesigner der gesamten Wohnwelt seines Auftraggebers. Wie das funktioniert, zeigt das Konzept des Interiordesign-Studios „Der Raum“ (www.der-raum.de). Geschäftsführer Mirco Baumhoff und sein Studioleiter Felix Lühring fertigen mit ihrem Team in eigener Werkstatt neben maßgeschneiderten Küchen auch Wohnmöbel wie Einbauschränke, deren Oberflächen sie meist auf die der Küche abstimmen. „Da der Fokus in erster Linie auf der Einrichtung einer offenen Wohnküche liegt, entwickelt sich aus diesem neuen Zentrum heraus dann automatisch das gesamte Ambiente der Etage“, erklärt Felix Lühring.
Durch die Planung aus einer Hand ließen sich die angrenzenden Wohnräume optisch perfekt einbinden. Das bedeutet: Auch die Wahl der Materialien für Wandverkleidung oder Bodenbeläge im Wohnzimmer dürfte künftig immer häufiger von den Designverantwortlichen kreativer Küchenstudios mitorganisiert werden. Grifflose Küchen mit matten Holz-Oberflächen in Schwarz oder Grau sind Volker Irle zufolge schwer im Kommen: „Sie wirken wohnlicher als weiße Küchen und lassen sich so perfekt in ein ganzheitliches Wohnkonzept einbinden“. Hier spiele auch das richtige Lichtkonzept eine entscheidende Rolle: „Helles Licht zum Kochen, gemütlich gedimmte Schummerbeleuchtung zum Essen – und nach dem Verlassen eine elegante Loungebeleuchtung“. Als prominente Vorreiterin für dunkle Küchen- und Wohnraumgestaltung gilt die Bloggerin Yvonne Zahn (kuechenglueck.de), die auch auf YouTube oder Instagram ihre Wohn-Ideen verbreitet. Bereits vor zehn Jahren habe sie eine Küche mit dunklen Fronten und Oberflächen designt, „die Wände schwarz gestrichen und einen Löwenkopf an die Wand gehängt“, erzählt sie am Telefon. „Die ist noch heute voll im Trend, da war ich meiner Zeit weit voraus“. Auch sie plant seit jeher Küche und Wohnräume aus einem Guss. „Ich bin großer Fan von effektvollen Tapeten in der Küche. Die überführe ich in die Wohnräume, so lässt sich ohne viel Aufwand ein harmonisches Gesamtbild erzeugen“. Hier empfiehlt sie neuartige Wandverkleidungen mit leuchtenden Tier- und Pflanzenmotiven auf schwarzem Grund „ohne Stoß“ für eine besonders hochwertige Optik. Derzeit bevorzugt sie „viel Grün“ in der Küche, meist in Form von Kräutern in schönen Pflanzkübeln, die auch gern von der Decke hängen dürfen. „Das hebt die Stimmung und verstärkt den wohnlichen Charakter zusätzlich.“
Vor dunkler Küchen-Kulisse mit klaren, grifflosen Fronten entfalten auch die innovativen, formschönen wie funktionalen Errungenschaften der Küchenhersteller ihre Wirkung. Sie reichen von objekthaften Dunstabzugshauben über integrierte Dampfbacköfen, intelligente Herde (die mit der Dunstabzugshaube kommunizieren, weil sie wissen, ob gerade Fleisch oder Gemüse zubereitet wird) bis zu Weinkühlschränken und Servierwagen, die es wegen ihres coolen Designs sogar in den Wohnraum schaffen.
Ohne Nachhaltigkeit läuft indes nichts in der neuen Küche. Niedrige Strom- und Wasserverbräuche bei Waschmaschinen oder Geschirrspülern sind mittlerweile ein entscheidendes Kaufkriterium. Moderne Kühlgeräte sorgen zudem dafür, dass Lebensmittel länger halten – und beugen so Verschwendung durch vorzeitiges Wegwerfen vor. Backöfen lassen sich über WLAN mit neuen Features updaten und bleiben so auch nach Jahren noch auf dem neuesten Stand. In jeden Haushalt gehört zudem ein Feuerlöscher. Hier gibt es z. B. im Huelsta-Studio Scharbau (huelsta-studio-scharbau.de) eine Serie von Nordic Flame in Form eines Soda-Siphons, die Funktion und edles Design verbindet. HEDDA MÖLLER