Trotzdem Ostern feiern!
Die Bilder aus der Ukraine lassen mich nicht los. Die Besatzer haben in Butscha grausame Gräueltaten und Verbrechen verübt. Nur Tage später lagen auf einem Bahnhofsvorplatz lagen 50 Tote und Hunderte Menschen. Die entfesselten Kriegsknechte schlagen überall zu, plündern, vergewaltigen und töten. Sie gehen mit unbeschreiblicher Brutalität gegen wehrlose Kinder und Frauen vor. Die russische Propaganda bezeichnet solche Berichte als Lügen und Propaganda der ukrainischen Seite. Die Toten seien Schauspieler gewesen. Noch abstruser: Ein großer Teil der Bevölkerung bestehe aus Nazis und sei schuldig.
Der ukrainische Präsident Selenskyi hat sich an die Mütter der russischen Soldaten gewandt: „Eure Kinder sind zu Plünderern und zu Henkern geworden.“
Ich denke an den Satz: „Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit.“ Und die Menschlichkeit ist das zweite. Warum geschieht das alles? Dieses „Warum“ ist das Warum Jesu am Kreuz: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Und es ist das Warum aller Menschen, die an die Würde jedes Menschen glauben.
Was da in der Ukraine geschieht, ist für mich wie ein schwarzer Karfreitag. Die Passion Jesu hat sich mit himmelschreiender Brutalität immer wieder in der Geschichte in vielen Variationen wiederholt. Es ist, als hätten die Menschen nichts dazugelernt.
An das Kreuz gefesselt, verhöhnt und verspottet, rief Jesus:: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ So klagen und fragen die Menschen in dem Land, das uns so nahekommt. So haben die vielen Opfer, zumeist Christen, gefragt. Was wir so hören sollten: Warum tut ihr Menschen das an, was gegen das Leben, die Würde und gegen die Liebe zwischen Menschen geschieht? Warum? Dieser schwarze Karfreitag wirft dunkle Schatten. Er fordert heraus, darüber nachzudenken, ob der Satz, dass der Mensch gut ist, der Wahrheit entspricht. Das ist eine notwendige Frage, die in uns zur notwendende Frage werden muss.
Aber auch in den Köpfen und Herzen der irregeleiteten Folterer, Vergewaltiger und Mörder. Morgen feiern wir Ostern. Mit den Bildern von Butscha im Kopf. Auch in der Ukraine und Russland wird Ostern als das höchste christliche Fest gefeiert.
Ich habe vor Jahren einen wunderbaren Ostergottesdienst in Moskau erlebt. Wir waren auf einer Friedensmission der Ev. Militärseelsorge. Drei Stunden wunderbare Musik von den Emporen. Um uns ergriffene Menschen. Sie feierten mit Inbrunst die Auferstehung und das Leben, das stärker ist als der Tod und das Töten. Ich sehe Putin vor mir in einem solchen Gottesdienst. Er, der hemmungslos auf den Sieg und das großrussische Reich setzt. Mit Raketen und Bomben. Der russische Patriarch Kyrill leitet diesen ´großen Gottesdienst. Er, der den Angriffskrieg offiziell als „ Angriffskrieg gegen die Kräfte des Bösen“ gutgeheißen hat. Das Volk der Russen soll ihn als heiligen Krieg verstehen. Welch schrecklicher Satz!
Die beiden Männer werden auch die Osterbotschaft hören, die vom Sieg des Lebens über den Tod und seine Helfershelfer spricht. Und von der österlichen Freude, die allen Menschen gilt, Opfern und Tätern. Und von einem Leben im gegenseitigen Respekt und in lebensdienlicher Geschwisterlichkeit. Und sie werden auch die Worte über den anderen Frieden hören, der nicht durch Waffen und Raketen herbeigeführt wird.
In seiner Abschiedsrede von dieser Welt sagt Jesus: „Den Frieden lasse ich euch zurück, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht!“
Werden Putin und der Patriarch sich das zu Herzen nehmen? Werden sie den anderen Frieden, der versöhnt, der heilt und der Menschen glücklich und befreit wieder atmen lässt, begreifen?
Das ist schwer zu glauben. Ich weiß. Aber ich will mir die Hoffnung darauf nicht ausreden lassen. Für mich bedeutet Ostern auch den Protest gegen den Tod und alle seine Komplizen. Auferstehung bedeutet auch aufzustehen zum gewaltlosen Aufstand gegen Gewalt, Lügen und Unmenschlichkeit. Und Eintreten für die Opfer. Mit dem Mut der Liebe, die stärker ist als der Hass. Im Geist der Vergebung und Versöhnung.
In diesem österlichen Geist lege ich einem 21-jährigen ukrainischen Mann, den russische Soldaten gefesselt haben und erschießen wollten, die Worte eines 21-jährigen Franzosen in den Mund. Worte, die der als Testament an seine Eltern 1942 geschrieben hat. Weil er im Widerstand gegen die deutschen Nazis war, wurde er von deutschen Soldaten zum Tode verurteilt: „Verzeiht mir, innig geliebte Eltern, allen Schmerz, den ich euch bereitet habe… Ich beschwöre Euch, Euren Glauben zu bewahren. Vor allem: keinen Hass gegen die, die mich erschießen.“
„Liebet Euch untereinander!“ hat Jesus gesagt, und die Religion, zu der ich zurückgekehrt bin und von der ihr nicht lassen sollt, ist eine Religion der Liebe. Ich umarme Euch alle mit allen Fasern meines Herzens.“ Das ist für mich Ostern 2022! HELGE ADOLPHSEN