Die Wohnung ist unsere dritte Haut
Wohnraum ist wandelbar. Wir vergrößern und verkleinern uns, ziehen zusammen und auseinander, reißen Tapeten ab und streichen Wände neu. Dabei sind die eigenen vier Wände nicht nur funktional, sondern von Bedeutung. Vor allem seit „außen“ in der Pandemie kleiner geworden ist, hat „innen“ eine neue Qualität bekommen. Auch Gott wohnt und verändert sich. Während der 40 Jahre dauernden Wanderung der Israeliten durch die Wüste wohnt er in einem Zelt, später, als sein Volk im Gelobten Land angekommen war, in einen Tempel. Eine Umstellung: „Seit dem Tag, an dem ich die Israeliten aus Ägypten herausgeführt habe, habe ich noch nie in einem Tempel gewohnt. Bis heute ist meine Wohnung immer ein Zelt gewesen, mit dem ich umhergezogen bin“, heißt es im 2. Buch Samuel. Gott wird sesshaft, zieht ein in sein Haus. Nach der Zerstörung auch eines zweiten Tempels in Jerusalem und einem weit verstreuten Diasporajudentum stellt sich die Frage danach, wo Gott wohnt und zu finden ist, erneut. Ob im Zelt, im Tempel oder im Himmel: Über den Wohnort Gottes gibt es in der Bibel verschiedene Vorstellungen. Auch das Johannesevangelium spricht vom Wohnen Gottes. Der fleischgewordene Gott „wohnte unter uns“, heißt es im Prolog. Gott lebt nicht unter uns, er wohnt und bezieht samt seiner Herrlichkeit Raum oder einen Stall. In all diesen Geschichten ist Gottes Wohnort nicht nur funktional. Er hat Bedeutung.
In unserer Hansestadt sind die Wohnverhältnisse sehr unterschiedlich und vor allem an den eigenen Geldbeutel geknüpft. Fast 40 Prozent aller Haushalte haben Anspruch auf geförderten Wohnraum und mehr als die Hälfte der Hamburgerinnen und Hamburger lebt allein (54,3 Prozent laut Statistikamt Nord). Und ganz gleich ob für Singles, Familien oder Wohngemeinschaften: Wohnraum in Hamburg ist knapp und ungleich verteilt. Während Wohnungen in Nienstedten eine durchschnittliche Größe von 124,6 Quadratmetern haben, sind es auf der Veddel 61 Quadratmeter. Multifunktional sind sie derzeit zwangsläufig überall. Sie sind Arbeitsplatz und Freizeithort, Kantine und Ruhezone, Urlaubsdomizil und sonntags auch mal Gottesdienstraum.
Wohnen ist ein Menschenrecht und muss für alle verfügbar sein
Wohnen ist mehr als nur ein Dach über dem Kopf. Es ist ein Menschenrecht. Seit 1948 ist das „right to housing“, das Recht auf Wohnen, in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert, wie auch im Uno-Sozialpakt von 1966, nach dem Wohnraum für alle verfügbar und bezahlbar sein muss. Die konkrete Umsetzung dieses Wohnrechts obliegt den einzelnen Staaten. 1968 hat die Bundesrepublik Deutschland den Uno-Sozialpakt unterzeichnet und sich damit zu einer Umsetzung verpflichtet. Laut einer Studie der Hamburger Sozialbehörde vor drei Jahren leben in Hamburg 1910 Menschen ohne Wohnung. Die tatsächliche Zahl dürfte weitaus höher liegen.
Wohnraum gewährt Schutz und Geborgenheit. Doch vor allem für Frauen ist das nicht immer gegeben. Körperliche Angriffe, vielfach auch sexuelle, erleidet etwa jede vierte Frau mindestens einmal durch einen Partner. Das Gewaltschutzgesetz von 2017 soll den Schutz in den eigenen vier Wänden garantieren. Doch die deutlich gestiegene Zahl der Anrufe beim Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ insbesondere 2020 zeigt eine andere Realität. Nicht zu letzt die Pandemie zeigt uns, wie problematisch es ist, wenn die Wohnsituation es nicht zulässt, in den eigenen vier Wänden aufzutanken, sich zu entfalten oder sich sogar zu verstecken.
Die Wohnung ist ein Rückzugsort und gilt – nach der Kleidung – als die „dritte Haut“. So schreibt der Psychotherapeut und Theologe Dieter Funke: „Unsere Wohnung stellt einen von der Umwelt abgegrenzten Ort dar, ihre Wände bilden eine Verlängerung der Grenze, die unseren Körper umschließt: die Haut.“ Wir eignen uns unseren Lebensraum an. Nach Funke beeinflusst die Art des Wohnens unser seelisches Wohlbefinden, „das wir durch Öffnen und Schließen, Weggehen und Wiederkommen, Sammeln und Entrümpeln regulieren.“ Für den österreichischen Maler und Architekten Friedensreich Hundertwasser endete die Aneignung von Wohnraum als „dritter Haut“ nicht innerhalb der eigenen vier Wände. Der Künstler, der sich gegen Standardisierung wandte und für eine individuelle Gestaltung von Wohnraum plädierte, forderte in den 1960er-Jahren das sogenannte Fensterrecht, das Recht, die Fassade rund um das eigene Fenster gestalten und bemalen zu dürfen. Eine individuelle Gestaltung macht die Wohnung zum Eigenen, ihre Wände grenzen uns ab und regulieren unser Kontaktbedürfnis. Geschlossene Türen und Fenster ermöglichen das Bei-sich-Sein, geben einen eigenen Raum, um auch die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. Das Öffnen oder Verlassen dieser Räume spiegelt den Wunsch nach Nähe und Gemeinschaft. Nach Funke gibt es eine Korrespondenz zwischen dem seelischen Eigenraum und dem physikalischen Eigenraum. So wird der Wohnraum zur Vermittlungsstelle zwischen dem Selbst und außen, zwischen dem Wunsch nach Alleinsein und Zusammensein.
In jüdischen Häusern erinnert die Mesusa an Gottes Gegenwart
Zum seelischen Eigenraum gehört für viele Menschen auch eine religiöse Dimension. In jüdischen Haushalten wird die Anwesenheit Gottes ganz handfest. Am Türpfosten zu einem Zimmer hängt eine Mesusa, eine kleine Kapsel aus Metall oder Holz, die eine Pergamentrolle enthält mit Versen aus der Tora, des ersten Teils des Tanach, der hebräischen Bibel. Die kurze Berührung der Mesusa beim Betreten eines Raumes erinnert an Gottes Gegenwart. Sie stellt die Bewohner eines Hauses unter Gottes Schutz und markiert einen Grenzbereich zwischen Sicherheit im Inneren und Gefährdung durch das Äußere. Das Gleichgewicht von innen und außen, von Schutz und Gefährdung, von Kontakt und Für-sich-Sein unter den aktuellen Bedingungen zu erhalten oder wiederzugewinnen ist eine persönliche wie gesellschaftliche Aufgabe. Manche Disbalance und Disharmonie werden jetzt erst sichtbar. Was der einen zu eng, zu voll geworden ist, ist dem anderen zu leer und unbelebt. Und viele kommen ohne Hilfe gar nicht raus aus ihrer „dritten Haut“. So stehen wir nun in einer Phase des Um- und Aufbruchs, des Überdenkens einzelner Wohnverhältnisse und Überwindens so mancher Ungerechtigkeit hin zu einer gesunden Balance. ANN-KATHRIN BRENKE