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Themenwelten Hamburg
Nordheide - April 2018

Schauspiel als Lebensschule

Wie Loretta Wollenberg aus jungen Menschen selbstbewusste Persönlichkeiten macht

Loretta Wollenberg ist Bühnen- und Fernsehschauspielerin. Sie arbeitet gern mit Kindern und Jugendlichen Fotos: E. C. Meyer
Loretta Wollenberg ist Bühnen- und Fernsehschauspielerin. Sie arbeitet gern mit Kindern und Jugendlichen Fotos: E. C. Meyer
Sechs Mädchen zwischen zehn und 15 Jahren stehen etwas verloren in der Kunststätte Bossard in Jesteburg. Verlegen mit den Füßen wippend, stellen sie sich vor. Zarte Stimmchen, manche kaum zu verstehen. Loretta Wollenberg (59), Schauspielerin und Musikpädagogin, sitzt still auf ihrem Stuhl und hört ihnen zu. „Geht doch mal herum und sucht nach etwas“, verlangt sie nach einer Weile. Die kleine Schar setzt sich in Bewegung, erkundet den Raum. Und schon lockern sich die Mädchen. „Stellt euch vor, ihr habt euch in einem Wald verirrt“, fordert Wollenberg sie als Nächstes auf. Da geht plötzlich eine Verwandlung in den Teenagern vor. Die Hände werden zu Taschenlampen, die Füße tasten vorsichtig über imaginäres Moos, der Bronzekopf von Bildhauer Johann Michael Bossard („Ist der tot?“) wird zu dem eines Zauberers und eine wie zufällig daliegende Fotokopie gerät zur Schatzkarte. Fast eine Stunde lang spielen die Mädchen völlig selbstvergessen und entwickeln aus dem Stegreif ein Theaterstück, dem Loretta Wollenberg mit amüsiertem Lächeln folgt. „Das hat riesig Spaß gemacht. Aber wo bleiben eigentlich die Leute für das Casting?“, fragt eine Zehnjährige. Denn die Mädchen sind ja gekommen, um sich für das Theaterstück „Der Zauberer von Oz“ zu bewerben, das Loretta Wollenberg im Frühjahr 2019 mit ihrer Gruppe „Jesteburger Kammerspiele“ auf die Bühne bringen will.

Casting für „Der Zauberer von Oz“ in der Kunststätte Bossard. Die Mädchen entwickeln aus dem Stegreif ein Theaterstück
Casting für „Der Zauberer von Oz“ in der Kunststätte Bossard. Die Mädchen entwickeln aus dem Stegreif ein Theaterstück
Voller Erstaunen erfahren die Kinder von ihrer Zuschauerin, dass sie das Casting schon hinter sich haben und sie alle engagiert sind. Loretta Wollenbergs Konzept ist wieder einmal aufgegangen. „Ich teste nicht die schauspielerische Begabung. Ich will, dass sich die jungen Leute etwas trauen“, sagt sie. Seit 15 Jahren macht die am Max-Reinhardt Seminar in Wien ausgebildete Künstlerin, die in Fernsehserien wie Polizeiruf 110, Sperling oder Großstadtrevier zu sehen war, Theater mit Laien. Inzwischen konzentriert sie sich dabei ausschließlich auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Über 50 Produktionen hat die Jesteburgerin bereits realisiert, zuletzt das Stück „Als die Tiere streikten“ – eine Hommage an Erich Kästner –, in dem sich die jungen Akteure mit der Frage auseinandergesetzt haben, wie die Welt von morgen aussehen soll. Öffentliche Zuschüsse erhält sie kaum. „Wenn man weiß, wie es geht, kann man auch mit wenig Geld tolle Effekte erzielen“, sagt die Bühnenerfahrene. Nicht zuletzt gehört dazu ganz viel Fleiß. So näht sie alle Kostüme selber.

Der Bronzekopf erinnert an den Bildhauer Johann Michael Bossard. Das Gesamtwerk des Künstlerehepaars Bossard befindet sich in der zwischen Jesteburg und Lüllau gelegenen Kunststätte
Der Bronzekopf erinnert an den Bildhauer Johann Michael Bossard. Das Gesamtwerk des Künstlerehepaars Bossard befindet sich in der zwischen Jesteburg und Lüllau gelegenen Kunststätte
Mitunter fährt sie quer durch die Republik, um Stoffspenden entgegenzunehmen. Selbst das Bühnenbild baut sie. „Ich möchte mich nicht von Zuschussanträgen abhängig machen“, sagt sie in Anspielung auf die „Kunst“-Gemeinde Jesteburg. Wöchentlich trifft sie sich mit ihrer Jugendgruppe und leitet sie dazu an, auf der Basis eines gegebenen Handlungsrahmens per Improvisation ihr eigenes Stück zu entwickeln. So schafft sie einen Entdeckungsraum, in dem die jungen Leute wachsen können. Mit Korrekturen hält sie sich zurück. Ihre Erfahrung: „Das wird schon. Man muss sie nur machen lassen.“ Tipps kommen wie nebenbei. Etwa: „Steh schulterbreit auf beiden Beinen und lass den Brustkorb frei atmen.“ – Und schon klingt die Stimme. Loretta Wollenberg sieht Schauspiel als Reifeprozess, der eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich verlangt und jede Menge Selbstbewusstsein verleiht. Eine Lebensschule, von der die jungen Leute auch später profitieren werden. Die Künstlerin, zu deren beruflichem Alltag musikalische Lesungen mit Sängern der Hamburgischen Staatsoper oder der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen gehören und die erst kürzlich von einer USA-Reise mit der Bayerischen Staatsoper zurückgekehrt ist, genießt das Pendeln zwischen der großen Bühne und ihrer Jugendarbeit. „Ich bin eine der Glücklichen in meinem Metier“, erklärt sie, „denn ich tue, was mir wirklich Spaß macht. Die Wachheit und Energie, die von den jungen Leuten ausgeht, begeistert mich immer wieder.“

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