Anzeige
Themenwelten Hamburg
Mögliche Technologien und bürokratische Fallstricke beim Ausbau erneuerbarer Ressourcen

Wirtschaftsgipfel EuroMinds in Hamburg: Mehr Tempo bei der Energiewende

Silvio Konrad von TÜV Nord Systems regt einen Energierat an. Scholz / EuroMinds

Der Strukturwandel in Europa nimmt Fahrt auf. Billionenschwere Wachstumsstrategien wie der „Green Deal“ der EU-Kommission weisen den Weg. Zu den wichtigsten Treibern der Transformation gehören die Energie- und die Klimawende. „Die Energiepolitik der letzten Jahrzehnte war verfehlt. Wir haben unsabhängig gemacht, weil es einfach und billig war“, sagt Marc S. Tenbieg, Geschäftsführender Vorstand des Deutschen Mittelstands-Bundes (DMB). Auf dem Wirtschaftsgipfel EuroMinds warnt der Chef des Wirtschaftsverbandes mit mehr als 25.000 Mitgliedsunternehmen vor einem dramatischen Wohlstandsverlust: „Ohne den Ausbau erneuerbarer Energien steht die deutsche Wirtschaft vor massiven Problemen.“


"Ich werde immer noch in Berlin an Brüssel verwiesen und in Brüssel an Berlin."

Dirk Graszt, Clean Logistics


Mit der Erkenntnis allein ist es aber nicht getan. „Im Land der Arbeitsgruppen und Gremien müssen wir wieder lernen, in der Umsetzung schneller und stärker zu werden“, sagt Josef Brunner. Der Unternehmer und Investor setzt auf junge Unternehmen, die Energiewende und nachhaltige Transformation maßgeblich vorantreiben. Regulierungswut und überbordende Bürokratie gehören nach Brunners Praxiserfahrungen zu den größten Hemmnissen. Hier sieht auch Prof. Dr. Claudia Kempfert erheblichen Handlungsbedarf. „Deutschland muss in Rekordzeit die Infrastruktur für die Nutzung erneuerbarer Energie ausbauen“, sagt die renommierte Energieökonomin vom Forschungsinstitut DIW. „Wir zahlen einen gigantischen Preis für die verschleppte Energiewende.“ Die Genehmigungen für Windkraft- und Solaranlagen dürften künftig nicht länger als ein Jahr dauern. „Wir brauchen auch in der Verwaltung ein agiles Management und eine neue Deutschlandgeschwindigkeit“, fordert die Wissenschaftlerin.

Fehlender Support und Entscheidungswille in der Politik bringt Unternehmer regelmäßig an den Rand der Verzweiflung. Seit acht Jahren arbeitet Dr. Gunar Hering bei Enertrag, ist dort inzwischen bis zum Vorstandschef aufgestiegen. „In diesem Zeitraum haben wir ein Windprojekt umgesetzt.“ Planungsrecht, Genehmigungsverfahren und Gerichtsprozesse verhinderten die schnellere Fertigstellung. Ausgebremst von der Politik fühlen sich auch Frank Wolf, CEO des österreichischen Unternehmens OBRIST Engineering, und Dirk Graszt, geschäftsführender Direktor von Clean Logistics.

Wolf, dessen Unternehmen E-Fuels produziert – also synthetische Kraftstoffe als saubere Alternative zu Diesel und Benzin –, fordert mehr Mut und Weitblick: „Wir brauchen einen globalen Energieträger, nicht als Brückentechnologie, sondern als längerfristige Lösung, die enkelsicher ist“, sagt Wolf. Unterdessen berichtet Dirk Graszt, der Diesel-Lkw auf Wasserstoffantrieb umrüstet, dass er von der Politik erst ernst genommen werde, seit Greta Thunberg und die Fridays-for-Future-Bewegung den Fokus verschoben hätten. „Ich werde zwar immer noch in Berlin an Brüssel verwiesen und in Brüssel an Berlin“, beklagt der Unternehmer. Inzwischen präsentierte Clean Logistics aber den Wasserstoff-Lkw „Fyuriant“, ein konkreter Schritt in Richtung Dekarbonisierung des Güterverkehrs.

Doch um im Verkehrssektor die Klimaschutzziele zu erreichen, müsste der Umstieg auf innovative Antriebssysteme schneller erfolgen. Hilfreich könnte hier die Einrichtung eines Nationalen Energierates mit Vertretern aus Politik, Wissenschaft und Unternehmen sein, wie ihn Silvio Konrad, Geschäftsführer TÜV Nord Systems, anregt. Es gehe auch um die Bündelung der Einzelfragen und die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren. Der Ausbau regenerativer Energien sei für das Gelingen der Energiewende essenziell. „Deshalb brauchen wir eine radikale Veränderung, um die hochgesteckten Ziele zu erreichen. Und wir müssen dabei immer ergebnis- und technologieoffen diskutieren“, mahnt der TÜV-Manager. Große Chancen sieht Konrad beim Einsatz von Wasserstoff: als Speichermedium, als Treiber sauberer Mobilität oder für die Strom- und Wärmeversorgung. Bei der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) ist H2 längst ein großes Thema. „Wir müssen aber auch darauf achten, dass Energie für die Industrie bezahlbar bleibt“, fordert HHLA-Chefin Angela Titzrath. Andernfalls laufe man Gefahr, dass Unternehmen ins Ausland abwanderten.

Das allerdings dürfe nicht zu falschen Anreizen führen. So kritisiert Prof. Dr. Volker Quasching von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin die Investitionen im fossilen Bereich. Die Förderung für den Einbau von Gasheizungen sei nicht mehr zeitgemäß. Dieses Problem sieht SPD-Umweltpolitiker Michael Thewes weniger: „Die privaten Haushalte investieren massiv in regenerative Energien. Die Begeisterung ist groß.“ Der Chemieingenieur räumte aber bürokratische Hürden ein. So sei für eine Fotovoltaikanlage eine separate Steuererklärung erforderlich.

Viele Menschen sind zu Veränderungen bereit, beobachtet auch Axel Kaiser. „Jeder kann etwas bewegen“, sagt der Gründer und Geschäftsführer von Dentlabs, einem Unternehmen, das Zahnpasta abschaffen und durch Zahnputztabletten ersetzen will. Reenie Vietheer, Expertin für erneuerbare Energien bei Greenpeace, betonte, dass die Einsparung von Energie stärker thematisiert werden müsse: „Die Zeiten des Überflusses sind vorbei. Lassen Sie uns über ‚weniger‘ und ‚genug‘ sprechen.“ Das bestätigt Carsten Liesener, CEO von Siemens Smart Infrastructure Europa. Deshalb seien flächendeckende Energy Audits notwendig, die den Stromverbrauch in Gebäuden sichtbar machen. „Das Einsparpotenzial ist gewaltig, und die sauberste Energie ist die, die wir nicht verbrauchen.“ PETER LINDEMANN
 

Weitere Artikel
Seite:12345